Es handelt sich bei unserer Aufgabe um die Variante eines Problems, dessen Lösung Eratosthenes dazu geführt hatte, den Erdumfang zu bestimmen. Und so soll zunächst an diese Leistung erinnert werden.

Die Bestimmung des Erdumfangs nach Eratosthenes ( um 250 v. Chr.)

Eratosthenes war in Alexandria in der dortigen Bibliothek tätig. Oft war er im Hafen der Stadt unterwegs, um Schriftrollen zu erwerben; die Kapitäne und Handlungsreisenden wussten, dass in Alexandria sich dafür ein Abnehmer finden würde. In Gesprächen mit den Reisenden erfuhr Eratosthenes, dass die Sonne zur Zeit der Sommersonnenwende am 21. Juni senkrecht über Assuan steht: Ein tiefer lotrechter Brunnen, so der Bericht, werde dort um die Mittagszeit dieses Tages von der Sonne bis zum Grund ausgeleuchtet. In Alexandria jedoch warfen zur gleichen Zeit alle lotrecht stehenden Gegenstände einen Schatten, so z.B. auch ein Obelisk.
Fassen wir in einer Zeichnung diese Fakten zusammen; in die Zeichnung eingehen werden auch die Voraussetzungen, die Eratosthenes machte.

Welche Annahmen liegen dieser Szene zugrunde?
Erstens die Annahme, die Erde habe Kugelform. Die Annahme war in der griechischen Welt weit verbreitet; so wurden die Beobachtungen bei Mondfinsternissen richtig gedeutet, wo der Schatten der Erde sich in Kreisform auf dem Mond abzeichnet.
Zweitens die Annahme, die Verbindung Assuan-Alexandria längs des Nils sei Ausschnitt eines Großkreises, das ist ein Kreis, dessen Mittelpunkt im Erdmittelpunkt liegt. Hier hatte Erastosthenes wohl das Glück des Tüchtigen; tatsächlich fließt der Nil zwischen Assuan und Alexandria recht genau von Süd nach Nord, einem Längengrad folgend.
Drittens die Annahme, dass die Sonnenstrahlen in Assuan und in Alexandria parallel einfallen. Das wiederum folgt, wenn man annimmt, dass die Sonne ungeheuer weit entfernt ist - gemessen an irdischen Dimensionen, hier am Erddurchmesser . Diese Annahme ist korrekt, und Eratosthenes hatte aufgrund der Kenntnisse, die in seiner Zeit gegeben waren, gute Gründe dazu. Es würde hier zu weit führen, diese Gründe aufzuzählen.

Zur Bestimmung des Winkels α

Die Länge s des Schattens wird gemessen; die Höhe h des schattenwerfenden, senkrecht stehenden Objektes ist bekannt. Dann kann man z.B. mit Hilfe einer maßstabsgerechten Zeichnung α direkt ablesen. Natürlich geht es einfacher, wenn man rechnet α = arctan(s/h).

Weil 7° ungefähr ein Fünfzigstel des ganzen Kreiswinkels ( 360°) ist, muss der Erdumfang etwa das Fünfzigfache der Entfernung Assuan - Alexandria betragen. Es ergeben sich rund 40 000 km ; das liegt recht nahe bei dem tatsächlichen Wert von 42000 km.

Woher kannte Eratosthenes die Entfernung Assuan- Alexandria? So weit mir bekannt ist, maß er diese in sog. Tagesreisen, deren Anzahl er wiederum von den Reisenden erfragen konnte. Das war freilich keine ausgesprochene Präzisionsmessung, ihm war wohl auch in diesem Fall das Glück des Tüchtigen beschieden.

Der Winkel α ist die Differenz zwischen den Breitengraden von Alexandria und von Assuan. Letzterer ist gleich 24° - Assuan liegt auf dem nördlichen Wendekreis ( Um korrekt zu sein, ein wenig weiter nördlich; der Wendekreis liegt bei 23,5°).

Die Methode des Eratosthenes beruht auf zwei Messungen: Erstens der Entfernung zweier Punkte, die auf einem Längengrad liegen und zweitens der Differenz von deren Breitengraden. Man rechnet aus, wie oft diese Differenz in einem Vollkreis enthalten ist und multipliziert diese Zahl mit der Entfernung der beiden Punkte.
Wie findet man die genaue Nord-Süd-Richtung und wie bestimmt man am einfachsten die Breitengrade der beiden Punkte ( man benötigt nur die Differenz der Breitengrade, aber die erhält man am einfachsten, wenn man die beiden Breitengrade direkt messen kann) ? Um das Jahr 1030 schlägt Hermann der Lahme aus dem Kloster auf der Bodenseeinsel Reichenau eine Vereinfachung des Verfahrens des Eratosthenes vor.
Um den Breitengrad eines Punktes auf der Nordhalbkugel zu bestimmen, muss man nicht die Sommersonnenwende abwarten. Man kann diese Messung jeden Tag, genauer gesagt jede Nacht wie folgt durchführen.

Der Polarstern ist ungeheuer weit entfernt ( relativ zu allen irdischen Entfernungen). Daher wird er von einem Punkt der Nordhalbkugel aus in der gleichen Richtung gesehen wie vom Nordpol aus.

Der Winkel β = 90° - α taucht am Beobachtungspunkt als Stufenwinkel auf: Es ist der Winkel zwischen der Senkrechten und dem Strahl zum Polarstern.

Deshalb ist der Winkel zwischen der Waagerechten und diesem Strahl gleich dem Breitengrad α.

Hermann der Lahme schlägt folgende Variante der Bestimmung des Erdumfanges nach Eratosthenes vor: Man lege in Nord-Süd-Richtung zwei Punkte fest, die genau einen Breitengrad voneinander entfernt sind. Man messe deren Entfernung und multipliziere diese mit 360.
Die Richtung zum Polarstern ist die Nord-Süd-Richtung ( und zwar die hier benötigte "Gitter-Nord- Richtung", nicht die fehlerbehaftete "magnetische Nord-Richtung")
( Meine Quelle zum Hinweis auf Hermann den Lahmen: Ekkehard Eickhoff: Kaiser Otto III. Die erste Jahrtausendwende und die Entfaltung Europas, Klett-Cotta Verlag, 1999)

Wir erweitern das Verfahren des Eratosthenes ein wenig: Der kürzeste Schatten beim höchsten Sonnenstand wird an einem beliebigen Jahrestag gemessen. Welche Bedeutung hat der Winkel α, den wir vom Taschenrechner gemäß der Beziehung α = arctan(s/h) ablesen können, wobei h die Höhe des schattenwerfenden Objektes ist? α gibt uns die Anzahl der Grade an, um die sich der Breitengrad des Standortes des Objektes von dem Breitengrad unterscheidet, über dem die Sonne gerade senkrecht steht.

Saarbrücken liegt etwa auf dem 49. Breitengrad. Am Tag der Sommersonnenwende hat α den Wert 49° - 23,5° = 25,5°. Die Länge s des kürzesten Schattens an diesem Tag beträgt s = h·tan25,5° = 0,48·h - dann ist der Schatten bei Sonnenhöchststand ungefähr halb so lang wie das Objekt.
Bei Herbst- und Frühlingsanfang steht die Sonne senkrecht über dem Äquator; dann ist α genau gleich dem Breitengrad, und der kürzeste Schatten an diesen Tagen hat die Länge s = h·tan49° = h·1,15 - dann ist der Schatten bei Sonnenhöchststand um ein knappes Sechstel länger als die Höhe des Objekts. Zwischen dem 21. Juni und dem 21. September- wenn α = 45° ist, das ist etwa um den 10. September - stimmen s und h überein. Und am Tag der Wintersonnenwende gilt s = h·tan72,5° = h·3,17 - dann ist der Schatten zur Mittagszeit gut dreimal länger als die Höhe des Objektes.

Ein Sonnenkalender ließe sich wie folgt bauen. Es wird ein Stab genau senkrecht hingestellt. Auf dem Boden markiert man die Schattenlängen, die zu einem bestimmten Datum zur Mittagszeit vorliegen. Man schreibt an die Markierungen das Datum.