Unser Fundament: Die Tradition. Unsere Aufgabe: Die Zukunft". So steht es auf den Umschlagmappen, in die wir unsere Abiturzeugnisse einlegen. Ein leeres Schlagwort oder ein Programm? Blättern wir ein wenig in den Jahresberichten der Schule aus früheren Zeiten und halten wir darin Ausschau nach Traditionslinien, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen. Wir werden rasch fündig, eine zufällige Auswahl genügt.

Zum 4. April 1887 lädt Direktor Krüger im Jahresbericht der Königlichen Gewerbeschule zu Saarbrücken, so unser damaliger Name, zur öffentlichen Prüfung und "zur Ausstellung der Schüler-Zeichnungen" ein. Ein Blick in die "Lehrverfassung" von 1887 und von 1888 zeigt, welch große Bedeutung man der künstlerischen Darstellung und überhaupt der Arbeit mit den Händen beimaß. Da gab es die Fächer Freihandzeichnen (incl. Modellieren), Linearzeichnen, Naturbeschreibung, Chemie und Mineralogie, und zum Unterricht in Chemie und Mineralogie gehörten "Arbeiten im Laboratorium".

Ein Gang durch die Flure der Schule, vorbei an den Galerien der künstlerischen Darstellungen unserer Schülerinnen und Schüler, ein kleiner Halt bei den umfangreichen, gut dokumentierten Mineraliensammlungen zeigt schon auf den ersten Blick, dass hier nicht nur von der Vergangenheit die Rede ist. Und der prächtig gestaltete, von unserer ehemaligen Schülerin Ebru Kalkandelen geschaffene "Saarbrücker Löwe" im Zeichensaal, auf welchen der erste Preis unter vielen Dutzend Konkurrenzmodellen im Wettbewerb anlässlich der Tausendjahrfeier Saarbrückens entfiel, hätte auch in den Räumen der Königlichen Oberrealschule stehen können, wie unsere Schule ab der Jahrhundertwende hieß. Im Chemielaboratorium wird heute noch von Schülergruppen regelmäßig und sehr erfolgreich gearbeitet, wenn auch leider nicht in einem schuleigenen, so doch als willkommene Gäste in den Laboratorien der Universität. Die "Besondere Lernleistung", welche ein Schüler im Verlauf der letzten Abiturprüfung in die Wertung einbrachte, war in einem Laboratorium der hiesigen HTW entstanden. Zur gleichen Traditionslinie gehört wohl die weit überproportionale Teilnahme von Schülern unserer Schule am Programm "MINT", einem Programm der Wirtschaft., um das Interesse an Studiengängen der Fachrichtungen Mathematik, Informatik , Naturwissenschaften und Technik zu fördern.
Und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang soll die für unsere Schule spezifische Durchführung des Berufspraktikums erwähnt werden. Es ist, um Unterrichtszeit möglichst nicht in Anspruch zu nehmen, in die letzte Schulwoche und in die erste Woche der großen Ferien verlegt, es wird stark in Anspruch genommen, und die Betriebe sind meist voll des Lobes über unsere Schülerinnen und Schüler.

Dem Jahresbericht 1890 ist vorausgeschickt "die Abhandlung des ordentlichen Lehrers Dr. Theodor Meyer, Über das sphärische Polarsystem und seine Anwendungen auf das Tetraeder'". Man ist zunächst verwundert, im Jahresbericht einer Schule eine ausführliche Abhandlung zu einem Gebiet der reinen Mathematik zu finden. Aber der damalige Direktor Dr. Mirisch mag geahnt haben, dass mit Herrn Dr. Meyer eine besondere Persönlichkeit in die Schule eingetreten war. Der Sohn von Dr. Meyer war später ebenfalls Lehrer an unserer Schule, auch sein Enkel war Mathematik-und Physiklehrer. Aufgaben, die Herr Dr. Meyer verfasst hat, kann man heute noch im Unterricht verwenden (ein Beispiel findet sich auf unserer homepage).

Vorzügliche, überregional beachtete Leistungen unserer Lehrer und Schüler in Mathematik und Naturwissenschaften lassen sich auch derzeit mühelos aufzählen. Ein Blick auf die web-Seite imaginary2008 des mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach (die Gewinner im Wettbewerb "Adventskalender" kommen zu einem Viertel aus unserer Schule) oder in die Liste der Landessieger des letzten Jahres in der Mathematikolympiade oder auf die Namen der Teilnehmer am Juniorstudium der Universität mag dazu fürs erste genügen.

Selbst bei eigentlich hochpolitischen Anlässen blieb die Königliche Oberrealschule ihrer Linie treu. Dazu ein Zitat aus dem Jahresbericht 1909: "Am 27.Januar wurde der Geburtstag Sr. Majestät des Kaisers in der festlich geschmückten Aula begangen. Die Festrede hielt Herr Oberlehrer Dr. Leclerq. Er gab einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Strahlungserscheinungen von Newton bis zur Gegenwart.". 1910 hielt bei derselben Gelegenheit der Lehrer Hardenberg die Festrede über die Bedeutung Alexander von Humboldts für die Entwicklung der Naturwissenschaften.

Hier haben wir einen höchst bedauerlichen Traditionsbruch zu vermelden: Die "festlich geschmückte Aula" ist 1972 provisorisch in Klassenräume aufgeteilt worden. Dieses Provisorium dauert bis heute an. Natürlich werden wir uns bemühen, diesen Bruch zu heilen. Was die Themen unserer Festreden betrifft, so sind wir allerdings unserem Fundament treu geblieben. So hielt beim Festakt zum 150-jährigen Geburtstag unserer Schule Herr Dr.Wolfram Mörsdorf , Vorstandsvorsitzender der ThyssenKrupp Automotive AG, den Festvortrag zum Thema "Innovationen in Deutschland", und beim dreißigjährigen Jubiläum des Schulvereins konnten wir uns an den Ausführungen von Herrn Prof. Dr. Harald Schlemmer, Geodätisches Institut der Technischen Universität Darmstadt zum Thema "Wie der Erde vermessen wird" erfreuen. Beide Referenten waren ehemalige Schüler unserer Schule.

Im Jahresbericht 1909 ist zu lesen, dass der Lehrer Dr. Schaub eine Sammlung unter früheren Schülern und Freunden der Schule veranstaltet hatte, um es der "Freien Turn,-Spiel- und Rudervereinigung" zu ermöglichen, "eine Ruderabteilung zu gründen und selbständig den Ruderbetrieb aufzunehmen". Das war eine von vielen Bemühungen, ein eigenes Bootshaus zu erwerben, ein Ziel, das ein Jahr später erreicht wurde. Im Jahr 1912 meldete der Direktor im Jahresbericht, dass der Bismarckschild, die damals begehrteste und heiß umkämpfte Trophäe in sportlichen Schülerwettbewerben in Saarbrücken, erstmals nicht an die Oberrealschule vergeben werden konnte, nachdem sie fünfmal in Folge von unseren Mannschaften errungen werden konnte.

Hier werden zwei Traditionslinien sichtbar: Die sehr erfolgreichen Bemühungen im Sport, die heute nahtlos fortgesetzt werden ( s. homepage) und das, was heutzutage "bürgerschaftliches Engagement" heißt, eine Tradition, die natürlich unser Schulverein weiter pflegt. Zu diesem Punkt noch ein Zitat aus dem Jahresbericht 1909: "Herr Kommerzienrat Edgar Röchling schenkte der Schule ein Bassin zur Wasser-und Sumpfpflanzenaufzucht, das er aus Beton in dem künftigen Schulgarten anlegen ließ. Herr Fabrikbesitzer Dr. Robert Pabst überwies der Anstalt sein Laboratorium, bestehend aus zahlreichen, wertvollen Geräten und Chemikalien". Zu erwähnen sind hier auch noch zwei Stiftungen aus den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts, welche der Schule zu gute kamen: Die nach dem Direktor Dr. Mirisch benannte Stiftung, welche für begabte, bedürftige Schüler eingerichtet war und die Stiftung von Kommerzienrat Roth, um Schülern den Besuch des Deutschen Museums in München zu ermöglichen.

Aus dem Schuljahr 1909/10 ist schließlich noch zu vermelden, dass an der Schule eine Sanitätskolonne eingerichtet wurde. Leiter war Herr Oberlehrer Dr. Schätzer, dessen Sohn später an unserer Schule Lehrer für Physik und Chemie war und der die Funktion des Stellvertretenden Schulleiters ausübte. Heute ist er Ehrenmitglied im Schulverein. Die Tradition der Sanitätskolonne wird heute von unserer Sanitätsgruppe in großem Umfang und mit bestem Erfolg fortgesetzt.

In den alten Jahresberichten wird von Sing-und Spielkreisen erzählt, in denen Schüler, Eltern und Freunde der Schule sich regelmäßig in Räumen der Schule trafen, um ein ganzes Repertoire von Volksliedern aufzubauen. Es war die Zeit der Jugendbewegung, und es wäre wohl eine eigene Untersuchung wert, wie die Ideale dieser Bewegung sich in unserer Saarbrücker Schule ausgewirkt haben. Heute finden sich unsere an Musik und Tanz Interessierten in der Musikwerkstatt zusammen. Das Programm der Jugendbewegung "Jugend erzieht Jugend" findet hier eine zeitgemäße Fortsetzung. Im gemeinsamem Werk vollzieht sich unmerklich die Integration aller Teilnehmenden. Denn natürlich ist die Integration heute zu einem schwierigeren, jedoch auch lohnenderen Aufgabenfeld geworden. Kamen vor einem Jahrhundert unsere Schüler aus Saarbrücken und der näheren Umgebung, so finden sich heute viele Schüler aus allen Kontinenten in unseren Klassen und Kursen. Wir haben die Aufgabe der Integration angenommen und ohne allzu viel Worte darüber zu machen immer wieder aus Neue gelöst. Das wird uns auch in Zukunft gelingen.

In den preußischen Oberrealschulen, in heutigem Sprachgebrauch naturwissenschaftliche Gymnasien, spielten die "lebenden" Sprachen, gemeint waren Englisch und Französisch, eine große Rolle. In unserer Bibliothek finden sich eine Prachtausgabe der Werke Voltaires und so manches andere Kleinod, das an die Wertschätzung des Französischen und des Englischen erinnert. Diese Tradition haben wir nicht nur aufgegriffen, sondern entscheidend weiterentwickelt. Heute hat unsere Schule zwei Zweige, den mathematisch-naturwissenschaftlichen und den neusprachlichen. Unsere Schüler werden drei Jahre lang gemeinsam unterrichtet. Bis einschließlich der Klassenstufe 7 sind die Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch, Französisch die schriftlich zu prüfenden Fächer ( Hauptfächer). Dann erst, zu Beginn der Klassenstufe 8, setzt die Verzweigung ein. Im mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig kommt als fünftes Hauptfach die Physik hinzu, im neusprachlichen Zweig beginnt als dritte Fremdsprache das Fach Spanisch.
Und fast hätte ich eine entscheidende neuere Entwicklung unserer Schule vergessen: Seit den sechziger Jahren sind wir keine reine Jungenschule mehr. Heute beträgt der Anteil der Mädchen an der Schülerschaft etwa 40 Prozent. Dieser Prozess vollzog sich so stetig und reibungslos, dass man ihn beim Rückblick tatsächlich leicht übersehen kann. Übrigens sind gerade in den Naturwissenschaften unsere Mädchen besonders leistungsfähig. Wiederum sei ein Blick auf die Nachrichtenspalte unserer homepage empfohlen.

Und so gehen wir zuversichtlich in die nächsten Schuljahre hinein und packen die neuen und die ständig wiederkehrenden Aufgaben an.

Dr. Gerd Brosowski, Januar 2009